Das Neujahrskonzert der Süddeutschen Kammersinfonie Bietigheim unter Peter Wallinger mit Sebastian Manz
Mühlacker. „Dennoch – denn noch klingt die Musik“ hat Peter Wallinger das Neujahrskonzert mit seiner Süddeutschen Kammersinfonie Bietigheim (SKB) überschrieben. Der trotzig mahnende Tonfall kommt nicht von ungefähr und ist mehrfach determiniert. In der Vergangenheit war diese Veranstaltung im Kulturkalender von Bietigheim und Murr fest verankert, doch wie bereits das Herbstkonzert der SKB konnte nun auch das traditionelle Neujahrskonzert lediglich in Mühlacker im dortigen Uhlandbau vor begrenzter Besucherzahl stattfinden. Erneut hat sich Wallinger zu einer Videoaufzeichnung entschlossen und stellt mit dem Neujahrskonzert bereits den sechsten kostenfrei abrufbaren Stream seines 1984 gegründeten Ensembles ins Internet.
„Dennoch“ stand auch über der Bühne des Uhlandbaus zu lesen, als das von der kunstsinnigen jüdischen Familie Emrich finanzierte, in einer Rekordbauzeit von 99 Tagen errichtete Konzerthaus im Oktober 1921 eröffnet wurde. Wie das Herbstkonzert trägt auch das Programm der jüngsten Produktion der SKB diesem Jubiläum in mehrfacher Hinsicht Rechnung. Vor allem hat Wallinger mit dem Lento aus der „Partita für Streicher“ von Gideon Klein ein Stück in den Mittelpunkt gestellt, das der tschechisch-jüdische Pianist und Komponist im KZ Theresienstadt geschrieben hat, kurz bevor er als 24-Jähriger nach Auschwitz deportiert wurde. Wie die dort ebenfalls internierten Emrichs hat Klein das Massenvernichtungssystem der Nazis nicht überlebt. Das Gewicht der Bedrohung und die Gewissheit existenzieller Geworfenheit sind dieser ungeheuer eindringlichen Musik einkomponiert – mit großem Ernst setzt Wallinger die Emotionen frei, die innige Interpretation der SKB geht auch dem Rezipienten vor dem Bildschirm noch direkt unter die Haut.
Bemerkenswert, wie es Wallinger gelingt, diesen nachdenklichen Ton im Verlauf des knapp einstündigen Programms gleichzeitig als roten Faden beizubehalten wie ihn zu transzendieren. Denn in Wallingers Zerfällung „denn noch“ klingt nicht nur die Mahnung an, dass der aktuelle Zustand für ein Orchester ohne ein großes Haus im Rücken nicht dauerhaft zu überstehen ist, sondern auch ein gewisses Maß an Hoffnung und Zuversicht. Hier kommt Sebastian Manz mit seinen an Eigenkompositionen grenzenden Arrangements ins Spiel: Spürbar gut aufgelegt gestaltet der Soloklarinettist des SWR Symphonieorchesters Astor Piazzollas melancholisch-nostalgische Reflexion über den Tango in „Café 1930“. Hier wie in der folgenden „Promenade – Walking the dog“, 1937 von George Gershwin für den Film „Shall We Dance“ mit Fred Astaire und Ginger Rogers komponiert, überlässt Wallinger die SKB komplett der Führung durch seinen grandiosen Solisten. Die dankt es mit hellwacher Spielfreude und folgt Manz und seinen lautmalerischen Kapriolen, bei denen sich vor dem inneren Auge sofort Bilder einer Gassigeher-trifft-Gassigeherin-Szene einstellen, gewissermaßen bei Fuß.
So virtuos wie klangsinnlich nimmt sich Manz der kapriziösen Fantasia aus Carl Maria von Webers Klarinetten-Quintett (op.34) an. Ein Wendepunkt ins Heitere, dem die zehnköpfig besetzte SKB mit Simon Wallinger am Kontrabass zusätzlich Volumen und Tiefe verleiht, während Manz den kompletten Tonumfang seines Instruments auslotet. Überbordende Lebensfreude dann im „Klezmer-Medley“, das Manz aus der „Israeli-Suite“ von Helmut Eisel herausdestilliert hat. Die umwerfende Ausgelassenheit, mit der er das musiziert, wirkt ansteckend und überträgt sich direkt auf die Musikerinnen und Musiker der SKB. Erneut hat Wallinger auch den Berliner Schauspieler Johann-Michael Schneider engagiert, der zwischen den Musikbeiträgen Lyrik von Mascha Kaléko und Hilde Domin eine Stimme gab – sein pointierter Vortrag, in dem auch die Musikalität dieser Texte anklingt, trägt ebenfalls maßgeblich zum Gelingen dieses ungewöhnlichen Neujahrskonzerts bei.
Info: Das Neujahrskonzert der SKB ist kostenfrei unter
www.sueddeutsche-kammersinfonie.de und
www.muehlacker-klassik.de/muehlacker-concerto abrufbar.
Autor: Harry Schmidt