Der Ingersheimer Countertenor Nils Wanderer ist international auf großen Bühnen zu Hause. Jetzt wirkt der 29-Jährige an den Neujahrskonzerten der Süddeutschen Kammersinfonie Bietigheim mit.

KILLARNEY/BIETIGHEIM-BISSINGEN. Der in Ludwigsburg geborene Countertenor Nils Wanderer bat als Stipendiat des Barbican Centres prägende Jahre in London verbracht, wo er mit dem London Symphony Orchestra unter Leitung von Dirigenten wie Jordi Savall und Kent Nagano aufgetreten ist. Im vergangenen Jahr wurde der in Bietigheim-Bissingen aufgewachsene Sänger mit dem ersten Preis für die beste Barockarie beim Bundeswettbewerb Gesang und dem zweiten Preis bei Placido Domingos „Operalia“, dem größten Wettbewerb dieser Art, geehrt. Nun kehrt Wanderer in seine Heimat zurück und wird 2023 ein eigenes Festival aus der Taufe heben.

Zuvor ist er an diesem Wochenende neben dem jungen französischen Cellisten Arthur Cambreling als Solist in den Neujahrskonzerten der Süddeutschen Kammersinfonie Bietigheim (SKB) zu hören. Wir erreichen den 29-Jährigen im südirischen Killarney – mit ein wenig Verspätung: Ein vom Sturm geknickter Baum hatte die Stromversorgung des Hauses, das er mit Freunden bewohnt, gekappt.

Guten Tag, Herr Wanderer. Konnten Sie die Sturmschäden beseitigen?

NILS WANDERER: Wir haben es vor einer halben Stunde hinbekommen: Jetzt ist der Akku wieder geladen und ich bin einsatzbereit! (lacht)

Killarney, London, Weimar, Tübingen, Ingersheim – hinsichtlich Ihres Lebensmittelpunkts kursieren unterschiedliche Informationen …

Nachdem ich Gesang an der Hochschule für Musik in Weimar in der Klasse von Prof. Siegfried Gohritz studiert hatte, habe ich in London gelebt und den Opera Course der Guildhall School of Music & Drama absolviert, ein zweijähriges Exzellenzprogramm für jeweils 24 postgraduierte Sängerinnen und Sänger. Irland ist eine der Stationen, an denen ich regelmäßig bin: Ich gebe hier eine Meisterklasse und singe an der Nationaloper. Deshalb pendele ich oft zwischen Dublin und Kerry, wo ich mit Freunden in einem Haus wohne. Zuvor hatte ich einen Erstwohnsitz in Tübingen, seit einem halben Jahr bin ich offiziell Ingersheimer, weil meine Eltern und Großeltern da leben, aber ich bin eigentlich immer unterwegs, vor allem momentan.

Am Wochenende werden Sie als Solist an den Neujahrskonzerten der Süddeutschen Kammersinfonie Bietigheim mitwirken. Wie ist es dazu gekommen?

Peter Wallinger war mein Musiklehrer am Ellental Gymnasium, bevor ich ans Seminar Maulbronn gewechselt bin. Wir haben viele gemeinsame Freunde und Kollegen. Als der Kontakt nach mehreren Jahren wieder zustande kam, war mein erster Impuls: Ich bin so selten zu Hause, es wäre wirklich schön, auch in der Heimat wieder einmal auftreten zu können. Als Peter mir vor Weihnachten ein E-Mail schrieb, ob ich Lust hätte, an den Neujahrskonzerten mitzuwirken, traf sich das perfekt mit dem Wunsch, sich auch hier künstlerisch präsentieren zu dürfen. Sowohl im Uhlandbau als auch im Kronenzentrum stand ich schon auf der Bühne, im Kronensaal bereits in meiner Kindheit: Mit fünf Jahren war ich Solist im Knabenchor Capella Vocalis, der in Reutlingen und Besigheim aktiv ist, dazu erinnere ich ein „Sommernachtstraum“-Musical, da war ich vielleicht neun oder zehn. Es ist immer schön, zu den Wurzeln zurückkehren zu dürfen.

Royal Opera House, Teatro Massimo, Berliner Staatsoper – große Bühnen sind Ihnen nicht fremd. Worin besteht der besondere Reiz des kleineren Maßstabs der nun anstehenden Konzerte mit der SKB?

Es sind ganz klar die Menschen. Weil man mit Menschen arbeiten kann und für Menschen singt, die man sehr gut kennt, für ein offenes, persönlich zugewandtes und herzliches Publikum. Natürlich hat beides seinen Reiz – Teatro Massimo oder „kleine“ intime Kammermusikbühne -, aber ich gebe immer tausend Prozent, egal, ob es für eine Person oder für tausend Personen ist. Ich freue mich auf diese Konzerte genauso wie auf jedes andere, wenn nicht noch ein bisschen mehr!

Wie Ist das Programm entstanden?

Peter hat sich Vivaldis „Sovente il Sole“ aus der Oper „Andromeda liberata“ gewünscht, ich Henry Purcells „When I am laid in earth“. Das hat ihn wiederum dazu bewogen, Auszüge aus dessen Semi-Oper „The Fairy Queen“ nach Shakespeares „Sommernachtstraum“ hinzuzunehmen, gerahmt von Monteverdi und Bartoks „Rumänischen Volkstänzen“. Der Solist in Haydns Violoncello-Konzert C-Dur ist Arthur Cambreling, Johann Michael Schneider wird ausgesuchte Texte rezitieren.

2019 haben Sie bei den Klosterkonzerten Maulbronn „Dido and Aeneas“ inszeniert und die Partie der Zauberin sowie den Geist gesungen, nun werden Sie mit „When I am laid in earth“ eine der berührendsten Barockarien präsentieren. Worin bestehen die größten Herausforderungen des auch als „Didos Lament“ bekannten Stücks?

Zunächst muss ich den Zusammenhang im Stück verstehen: Wo steht Dido gerade? Was hat sie bis dahin durchgemacht? Und wo möchte sie hin? In ihrem Fall in den Tod. Sängerisch ist es wichtig, Text und Musik schlüssig zu verbinden. Für mich ist diese Arie ein barockes Juwel von einzigartigem Rang: Ich habe sie schon sehr oft gesungen. Vielleicht gibt es gleich schöne Musik, aber bestimmt keine schönere. Worauf es ankommt, ist, nicht zu versuchen, eine Emotion künstlich herzustellen, etwa das traurige noch trauriger, noch emotionaler zu gestalten, son­dern die Musik wirklich für sich sprechen zu lassen. Es ist egal, ob ich sie in Istanbul, in Palermo, in Indien, in Kanada singe – sie hat immer die gleiche Wirkung, weil sie so nah an den Menschen ist.

Was steht 2023 sonst noch an?

An der Staatsoper Hannover singe ich in Monteverdis „Orfeo“, in der Uraufführung des Musicals „Romeo und Julia“ im Theater des Westens die für mich geschriebene Countertenor-Partie des Todesengels. An der Oper Frankfurt werde ich als Tolomeo in Händels „Giulio Cesare“ auftreten. Nach einer zehntägigen Meisterklasse in Kerry werde ich auf Kanada und Amerikatour gehen. Und gegen Ende des Jahres wird, wenn alles gut läuft, der erste Teil meines ersten Albums erscheinen. Vor allem möchte ich aber viel mehr in der Heimat machen und die Neujahrskonzerte mit der SKB sind da ein sehr guter Anfang. Noch in diesem Jahr soll mein Festival „Wanderer zwischen den Welten“ an den Start gehen, das in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg entsteht.

INFO: Die SKB spielt am 14. Januar um 19.30 Uhr im Bürgersaal im Rathaus Murr, 15. Januar um 11 Uhr im Uhlandbau in Mühlacker und um 17 Uhr in der Kelter in Bietigheim-Bissingen.

Autor: Harry Schmidt

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